Zug in die Freiheit – ein trinationales Forschungs- und Public-History-Projekt

Am 5. Februar 1945 bestiegen rund 1200 Jüdinnen und Juden aus dem KZ Theresienstadt einen sogenannten „Zug in die Freiheit“, der sie via Kreuzlingen und St. Gallen St. Fiden in das damalige Schulhaus Hadwig – die heutige Pädagogische Hochschule St. Gallen (PHSG) – brachte. Damit wurden sie von der nationalsozialistischen Verfolgung und dem Holocaust gerettet. In der Schweiz ist nur wenig über diese erfolgreiche Befreiungsaktion und die weiteren Lebenswege der Passagier*innen aus den Niederlanden, der Tschechoslowakei und Deutschland (inkl. Österreich) bekannt. Ebenso ist das Ereignis nicht in den regionalen, nationalen oder internationalen/transnationalen Erinnerungskulturen verankert.

Dies wollen wir ändern: Initiiert von der Mamlock Foundation aus Berlin und der PHSG und in Kooperation mit der Freien Universität Berlin und der Karlsuniversität Prag, wurde dieses Forschungs- und Public-History-Projekt lanciert. In Zeiten von zunehmendem Antisemitismus will es ein Zeichen gegen das Vergessen des Holocausts und für mehr Toleranz setzen.

Das Hadwig-Schulhaus in St. Gallen, 1945 (heute Teil des Campus der PHSG)
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Das Hadwig-Schulhaus in St. Gallen, 1945 (heute Teil des Campus der PHSG) StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_18
Einige der jüngsten Passagiere des «Zugs in die Freiheit»
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Einige der jüngsten Passagiere des «Zugs in die Freiheit» StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_23

Über das Projekt

Transnationale und biografische Forschungsansätze

Während der Pilotstudie sichten die Projektpartner die Archivbestände über die Befreiungsaktion in ihren entsprechenden Ländern und digitalisieren und indexieren Teile des umfangreichen Quellenmaterials. Im darauffolgenden Forschungsprojekt bilden die Biografien der 1200 befreiten Jüdinnen und Juden einen zentralen Bestandteil. Die Forschung trägt zu einem vertieften Verständnis darüber bei, wie sich Verfolgung und Zwangsmigration auf individuelle Lebenswege, biografische Erzählungen und Identitätskonstruktionen auswirken.

Output für öffentliche und schulische Vermittlung

Die Forschungsergebnisse werden über eine mehrsprachige Website sowie Unterrichtsmaterialien vermittelt, welche den bildungspolitischen Vorgaben der jeweiligen Länder Rechnung tragen. Auch Dauerausstellungen und/oder Erinnerungsorte in Tschechien, der Schweiz und Deutschland bringen den «Zug in die Freiheit» und die Erinnerung daran in die Öffentlichkeit. Mit dem Schulhaus Hadwig in St. Gallen und dem geplanten generationenübergreifenden Else Ury Campus beim Mahnmal Gleis 17 in Berlin ist der Zugang zu konkreten Örtlichkeiten bereits vorhanden. Das Ziel in Tschechien ist die Schaffung eines Erinnerungsortes in der Nähe der Gedenkstätte Theresienstadt oder entlang der Route des «Zugs in die Freiheit».

Historischer Kontext

Von Theresienstadt nach St. Gallen

In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs gelang es mehrmals, einige Tausend Jüdinnen und Juden vor der systematischen Ermordung durch NS-Deutschland zu retten. Dazu gehörten auch die 1200 ehemalige Häftlinge aus Theresienstadt, welche am 5. Februar 1945 den «Zug in die Freiheit» bestiegen und das Konzentrationslager verliessen. Die meisten Passagiere waren ältere Menschen, aber auch Kinder waren darunter. Die Befreiten kamen aus Deutschland (inkl. Österreich), den Niederlanden und der Tschechoslowakei. Sie erreichten die Schweiz am frühen Morgen des 7. Februars 1945 via Kreuzlingen und St. Gallen, wo sie für mehrere Tage im Schulhaus Hadwig untergebracht waren. Dieses ist heute Teil des Campus der Pädagogischen Hochschule St. Gallen.

Die Auswirkungen der schweizerischen Flüchtlingspolitik

Bedingt durch die damalige restriktive schweizerische Flüchtlingspolitik, mussten die 1200 mit dem «Zug in die Freiheit» geretteten Jüdinnen und Juden die Schweiz so schnell als möglich wieder verlassen. Einige kehrten in ihre Heimatländer zurück und viele emigrierten nach Übersee oder Palästina. Nur wenige der Passagier*innen, die meisten von ihnen hochbetagt, durften dauerhaft in der Schweiz bleiben.

Eine Rettungsaktion aus privater Initiative

Die Befreiung der Gefangenen lässt sich auf die private Initiative des Schweizer Ehepaars Recha und Isaac Steinbuch zurückführen, welches von Europa aus für die nordamerikanische „Union of Orthodox Rabbis of the United States of America and Canada“ (UOR) und dessen Hilfswerk „Vaad Ha-Hatzalah“ aktiv waren. Im Oktober 1944 nahmen sie mit dem ehemaligen Schweizer Bundespräsidenten Jean-Marie Musy Kontakt auf und informierten ihn über ihre geplante Rettungsaktion. Musy hatte durch seine Sympathien für faschistische Regimes persönliche Kontakte in NS-Kreisen und deshalb bereits die Freilassung von mehreren Einzelpersonen erwirken können. Die Pläne für die Rettung der jüdischen Gefangenen aus Theresienstadt wurden schliesslich konkret, als Musy sich mehrmals mit Reichsführer SS Heinrich Himmler zu Verhandlungen in Deutschland traf. Diese beinhalteten ursprünglich auch Diskussionen über einen Plan, jede Woche 1200 Jüdinnen und Juden aus Konzentrationslagern zu befreien. Diese Ausweitung der Rettungsaktion scheiterte jedoch.

Die ersten Tage in St. Gallen

Während den ersten Tagen, welche die Befreiten in St. Gallen verbrachten, wurden einige von ihnen vom Schweizer Fotografen Walter Scheiwiller fotografiert. Die Fotoserie entstand für die Agentur «Photopress Zürich» (heute: Keystone).

Registrierung im “Desinfektionslager” in St. Gallen.
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Registrierung im “Desinfektionslager” in St. Gallen. StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_35
Kranke Befreite wurden medizinisch behandelt.
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Kranke Befreite wurden medizinisch behandelt. StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_04
Einige der Passagiere des “Zugs in die Freiheit» während dem Essen, beaufsichtigt vom Schweizer Militär.
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Einige der Passagiere des “Zugs in die Freiheit» während dem Essen, beaufsichtigt vom Schweizer Militär. StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_25
Nur die Kranken erhielten ein Bett, die meisten Befreiten schliefen auf strohbedecktem Boden.
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Nur die Kranken erhielten ein Bett, die meisten Befreiten schliefen auf strohbedecktem Boden. StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_27
Obwohl die meisten Befreiten ältere Personen waren, gab es auf dem Transport auch Kinder.
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Obwohl die meisten Befreiten ältere Personen waren, gab es auf dem Transport auch Kinder. StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_14

Team

Mamlock Foundation

Michael Mamlock ist Mitinitiator des Projekts, Angehöriger eines Passagiers des „Zug in die Freiheit“, offizieller Projektbotschafter in der Schweiz, Tschechien und Deutschland. Michael Mamlock ist Kaufmann in langjähriger selbständiger Tätigkeit mit Erfahrung von Projektentwicklungen. Seit vielen Jahren gleichzeitig tätig als Initiator für verschiedene Projekte zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Shoah.

Pädagogische Hochschule St. Gallen

Thomas Metzger ist Professor für Geschichte und Co-Leiter der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Forschungs­schwer­punkte mit Bezug zum Projekt: Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte des Antisemitismus, schweizerische Flüchtlingsgeschichte 1933-1945, Geschichte des Faschismus.

Johannes Gunzenreiner ist Professor für Geschichte und Politische Bildung und Co-Leiter der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen

Helen Kaufmann ist diplomierte Sekundarlehrerin mit zusätzlichem Master in Geschichts­didaktik und öffentlicher Geschichtsvermittlung und seit 2022 Doktorandin an der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte der Pädagogischen Hochschule St. Gallen.

Freie Universität Berlin

Martin Lücke ist Professor für Didaktik der Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und wissenschaftlicher Leiter des Margherita-von-Brentano-Zentrums für Geschlechterforschung der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte mit Bezug zum Projekt: Holocaust und historisches Lernen, empirische Geschichtskultur­forschung, Public History.

Cornelia Chmiel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte mit Bezug zum Projekt: Historisches Lernen in Gedenkstätten und Holocaust Education.

Karlsuniversität Prag

Kateřina Králová ist Professorin für zeitgenössische europäische Geschichte, stellvertretende Direktorin des Herzl-Zentrums für Israel-Studien und Leiterin des Forschungszentrums für Erinnerungsstudien an der Karls-Universität Prag. Von 2019 bis 2021 war sie Vorsitzende des Lehrstuhls für Russland- und Osteuropastudien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Versöhnung mit der NS-Vergangenheit, Post-Konflikt-Gesellschaften, der Holocaust, der griechische Bürgerkrieg und die historische Migration.