Zug in die Freiheit – Projektbeschrieb

Ein Forschungs- und Public-History-Projekt

1 Ausgangslage

Vereinzelt waren in den letzten Kriegsmonaten des Zweiten Weltkriegs Bemühungen von Erfolg gekrönt, ein paar Tausend Jüdinnen und Juden der Todesmaschinerie NS-Deutschlands zu entreißen. Am 5. Februar 1945 verließ ein solcher Transport mit 1200 KZ-Häftlingen Theresienstadt. Mehrheitlich waren es ältere Menschen, es waren aber auch Kinder darunter. Die Befreiten stammten aus Deutschland (einschließlich Österreich), den Niederlanden und der Tschechoslowakei. Sie erreichten am frühen Morgen des 7. Februar 1945 die Schweiz und wurden für einige Tage im damaligen Primarschulhaus Hadwig in St. Gallen untergebracht. Nach einigen Tagen wurden die befreiten Jüdinnen und Juden auf Flüchtlingslager verteilt. Nur ganz wenige von ihnen durften in der Schweiz bleiben, denn grundsätzlich verlangte die Schweiz, dass sie so schnell wie möglich weiterreisen sollten.

Befreite KZ-Inhaftierte im Schulhaus Hadwig, StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_05

Das Hadwig-Gebäude ist heute Teil des Campus der Pädagogischen Hochschule St. Gallen (PHSG). Die dortige Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte erachtet es als ihre Verpflichtung, an dieses Stück Weltgeschichte, das sich in St. Gallen abgespielt hat, zu erinnern. Dasselbe Ziel hat die Mamlock Foundation. Auch die Schweiz sollte ein Interesse an der Erinnerung an diese Be­freiungsaktion haben, ebenso wie Tsche­chien und Deutschland. Daher haben die Mamlock Foundation und die Fachstelle das internationale Forschungs- und Public-History-Projekt «Zug in die Freiheit» initiiert, an dem als weitere akademische Partner­innen die Freie Universität Berlin sowie die Karls-Universität Prag partizipieren.

Die Aktion darf nicht vergessen gehen, vor allem aber trifft dies auf die 1200 befreiten Menschen zu.

Die Fachstelle hat in den vergangenen Jahren gewisse Vorarbeiten geleistet. 2015 wurde zusammen mit Studierenden in einem Projektseminar eine kleinere Ausstellung umgesetzt. Zudem haben sich drei Masterarbeiten von Studierenden der PHSG mit Einzelschicksalen befasst. Eine deutlich vertieftere und inter­national koordinierte Erforschung der Thematik, deren Resultate breit für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, ist ein Desiderat und soll nun in Angriff genommen werden. Ein kurzer historischer Abriss der Befreiungsaktion und eine kompakte Kontextualisierung sind mittels des QR-Codes einzusehen, der auf die Dokumentation der Ausstellung von 2015 verweist.

 

2. Ziele

Die Erinnerung an die Shoah gerade auch im öffentlichen Raum verliert mit wachsender zeitlicher Distanz keineswegs an Bedeutung. Vielmehr kommt ihr angesichts erstarkender extremistischer Bewegungen in Europa eine eminent demokratiestützende Funktion zu. Die Shoah als Zivilisationsbruch darf deshalb nicht vergessen und dem Antisemitismus muss entgegengewirkt werden. Deshalb verfolgt das insgesamt auf vier Jahre angelegte For­schungs- und Public-History-Projekt das Ziel, auf der Grundlage der Erforschung der Befreiungsaktion erstens eine breite Öffentlichkeit und zweitens speziell Schülerinnen und Schüler zu erreichen. Das Erste wird erreicht, indem die Ergebnisse auf einer Website der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland und Tschechien lokale Ausstellungen und Erinnerungsorte geschaffen werden, das Zweite, indem didaktische Materialien für den Transfer in die jeweiligen Schulsysteme sorgen.

3. Struktur

Das auf vier Jahre ausgelegte Gesamtprojekt unterteilt sich in eine einjährige Pilotstudie und eine dreijährige Hauptphase.

3.1 Pilotstudie

Die auf ein Jahr anberaumte Pilotstudie – idealerweise mit Beginn im Oktober 2021 – leistet zentrale Vorarbeiten für die weitere Projektumsetzung. Die Projektpartner sondieren die Aktenlage zur Befreiungsaktion in ihren jeweiligen Ländern:

  • Schweiz: Schweizerisches Bundesarchiv, Archiv für Zeitgeschichte, Archiv(e) des (Schweizerischen) Roten Kreuzes, kantonale Staatsarchive, Lokalarchive.
  • Deutschland: Bundesarchiv Berlin, Landesarchiv Berlin, Entschädigungsamt Berlin, ITS Bad Arolsen, Lokalarchive.
  • Tschechien: Terezín Memorial (in Theresienstadt) und Terezín Initiative Institut, Nationalarchiv, Jüdisches Museum Prag, Staatliches Bezirksarchiv Litoměřice, sowie Nationalarchiv und Lokalarchive.

Auch Kinder waren auf dem Transport aus dem KZ Theresienstadt, StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_05

Einen exzellenten Ausgangspunkt für die Recherche bilden die Akten, welche die Schwei­zerischen Behörden zu allen Flüchtlingen erstellten, die während des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz gelangten, und im Schweizerischen Bundesarchiv aufbewahrt werden. Auch für die 1200 aus dem KZ Theresienstadt Befreiten existieren folglich solche Dossiers. Dieser umfang­reiche Aktenbestand wird einer Kurzsichtung und Digitalisierung unterzogen. Die Verant­wortung für diese aufwändige und für das Projekt grundlegende Aufgabe fällt der PHSG zu. Die Analyse entlang verschiedener Kriterien wie zum Beispiel Herkunft, Deportationsdatum (sofern eingetragen), Aufenthaltsorte in der Schweiz, Rückkehr/ Weiterreise, Verbleib in der Schweiz werden es ermöglichen, für die weiteren Schritte Einzelschicksale zu definieren, die für die multinationale Sicht auf die Befreiungsaktion von besonderer Relevanz sind. Einzel­schicksale werden sowohl für die Website, die didaktischen Materialien als auch die Aus­stellungen von grosser Bedeutung sein.

Die Selektion von Einzelschicksalen wird den Ausgangspunkt für projektartige Seminare an den jeweiligen Hochschulen bilden. Somit werden Stu­­dierende in zentraler Funktion in die Pilotstudie integriert. Die Teilnehmenden der Seminare wer­den sich zusammen mit dem Projektteam im Spät­sommer/Herbst 2022 zu einer Summerschool treffen und ihre Erkenntnisse vertieft diskutieren. Zugleich werden sie in dieser Woche alle Standorte besuchen und auch die authentischen Erinne­rungsorte kennenlernen.

 

 

3.2 Hauptphase

In der auf drei Jahre anberaumten Hauptphase des Projekts finden die geschichts­wissen­schaftliche Erforschung der Befreiungsaktion, die Erstellung der Website sowie die didaktische Umsetzung statt. Auch die verschiedenen Ausstellungen werden konzipiert. Die physische Umsetzung kann standortspezifisch länger dauern.

Projektstruktur

 

 

4. Produkte

4.1 Website

Die mehrsprachige Website stellt produktmäßig die Klammer des Gesamtprojektes dar. Die Website wird in Tschechien erstellt und langfristig gepflegt werden. Sie vereint die Erkenntnisse aus den erforschten Themenbereichen mit dem Aspekt eines (virtuellen) Erinnerungsortes und einer Plattform für Lehrpersonen. Die technische Umsetzung und Pflege der Website erfolgt durch das renommierte «Malach Center for Visual History» der Karls-Universität Prag. Inhalt­lich stellen neben den Verhandlungen und Intentionen hinter der Befreiungsaktion die Zusam­menstellung des Transports im KZ Theresienstadt, die Transportroute und der Transport an sich, die Ankunft und Unterbringung in der Schweiz ausgehend von sogenannten Desinfek­tions- über Quarantäne zu Flüchtlingslagern sowie das «Leben nach dem Überleben» den Schwerpunkt dar. Die recherchierten Einzelschicksale sowie die Charakterisierung der ver­schiedenen Gruppen unter den befreiten Jüdinnen und Juden vertiefen und illustrieren diese Themenbereiche. Ebenfalls von Interesse sind die Deportationen nach Theresienstadt sowie die involvierten Tätergruppen.

4.2 Unterrichtsmaterialien

Zusammen mit den geplanten Ausstellungen, die auch als Teil einer öffentlichen Geschichts­vermittlung zu verstehen sind, kommt dem Unterrichtsmaterial eine zentrale Bedeutung für den Transfer der Ergebnisse in die Gesellschaft zu. Basierend auf den Forschungsergebnissen werden Unterrichtsmaterialien für die drei beteiligten Länder erarbeitet. Anhand der Befreiungsaktion und deren Kontextualisierung ist es möglich, verschiedene Themenbereiche aus den Großbereichen «Holocaust Education», «Geschichte des Nationalsozialismus» und «Zweiter Weltkrieg» in Schulen umzusetzen. Über die Vermittlung dieser Wissensbestände hinaus sind die Materialien auf die Förderung von Kompetenzen im Bereich Demokratie­bildung/Politische Bildung ausgerichtet. Die didaktischen Materialien stellen spezifische Bezüge zu den jeweiligen nationalen Lehrplänen her, um die Anwendbarkeit für die Lehr­personen zu gewährleisten. Mit Blick auf die Schweiz kommen somit Bereiche in den Fokus, die seit der Einführung des Lehrplan 21 an Bedeutung gewonnen haben, zugleich aber auch durch neue Unterrichtsmaterialien erst gut umsetzbar gemacht werden müssen. Die didak­tischen Materialien sind über die Website zugänglich. Die in die Pilotstudie und allenfalls andere Arbeitsschritte involvierten Studierenden sind darüber hinaus zum einen Garant dafür, dass die erforschten Inhalte von den Projektpartnern in die Hochschullehre integriert werden. Zum anderen werden diese Studierenden zu wichtigen Botschafterinnen und Botschafter des Projekts.

Die Geretteten waren teilweise gesundheitlich sehr geschwächt. StadtASG_PA_Scheiwiller_Walter_04

 

4.3 Ausstellungen

Mehrere Ausstellungsformate greifen die Thematik der Befreiung von 1200 KZ-Häftlingen aus Theresienstadt in den drei am Projekt beteiligten Ländern auf und machen den Projekt­gegenstand einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und befördern dadurch die transnationale Erinnerung. Einen authentischen Erinnerungsort stellt das 1945 als Desinfektionslager ver­wendete ehemalige Primarschulhaus Hadwig dar, das heute Teil der Pädagogische Hoch­schule St. Gallen ist. Das Gebäude wird aktuell und künftig weiterhin als Bildungsstätte verwendet. Vor dem Gebäude sollen Informationstafeln auf die Geschichte des Gebäudes hinweisen. Via QR-Codes wird dabei auf die auf der Website hinterlegten Informationen ver­wiesen. Dieser Teil der Ausstellung ist unabhängig von den Öffnungszeiten des Hochschul­gebäudes zugänglich. Hohen dokumentarischen Wert besitzt eine Fotostrecke, die vom Fotografen Walter Scheiwiller Anfang Februar 1945 vor Ort im Hadwig-Gebäude erstellt wurde und die Situation der Befreiten im requirierten Gebäude zeigt (einige der Fotografien sind in diesem Dokument zu sehen). Im Gebäude selbst werden an Örtlichkeiten, die aufgrund der Bildstrecke von Walter Scheiwiller zu eruieren sind, auf spezifische Aspekte des Lebens der Flüchtlinge im Gebäude sowie auf Informationstafeln auf die historischen Umstände der Aktion verwiesen. Auch hier wird für weiterführende Informationen direkt mit der Website verlinkt.

 

 

Für Tschechien ist eine Integration der Thematik in die Ausstellungen in der Gedenkstätte Theresienstadt sowie mobil entlang der Route des Transports vorgesehen. Auch in Deut­schland sollen Informationen in bestehende Gedenkarrangements oder innerhalb dieser als eigenständiger Gedenkort/Gedenkstätte integriert werden. In Frage kommt z. B. das Mahnmal Gleis 17 (Bahnhof Grunewald).

 

5. Projektpartnerinnen und Projektpartner

Initiiert und koordiniert von der Mamlock Foundation und der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte, partizipieren mit der Freien Universität Berlin und der Karls-Universität Prag zwei weitere Partnerinstitutionen am Projekt „Zug in die Freiheit“. Die drei Hochschulen verant­worten vorrangig die Forschung und die inhaltliche Umsetzung. Die Mamlock Foundation, die Erfahrung in erinnerungskulturellen Projekten aufweist, unterstützt das Projekt durch Fund­raising, Networking und im Kontakt mit Behörden und anderen Stakeholdern sowie in administrativen Belangen.

 

Das Projektteam in alphabetischer Reihenfolge (Kontakte für diese Eingabe unten eingefügt):

Johannes Gunzenreiner ist Professor für Geschichte und Politische Bildung und Co-Leiter der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen und Leiter des Regionalen Didaktischen Zentrums in Gossau (Schweiz).

Kateřina Králová is an Associate Professor of contemporary European history and the Head of the Department of Russian and Eastern European Studies at Charles University, Prague. In her research she focuses on reconciliation with the Nazi past, post-conflict societies, the Holocaust, the Greek Civil War and historical migration.

Martin Lücke ist Professor für Geschichtsdidaktik am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Wissenschaftliche Leiter des Margherita-von-Brentano-Zentrums für Geschlechterforschung der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte mit Bezug zum Projekt: Shoah und historisches Lernen, empirische Geschichts­kultur­forschung, Public History.

Michael Mamlock ist Kaufmann in langjähriger selbständiger Tätigkeit. Erfahrung mit Projektentwicklungen im medizinischen/pharmazeutischen Bereich sowie in der Immobilienwirtschaft. Seit vielen Jahren gleichzeitig tätig als Initiator für verschiedene Projekte zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Shoah. Gründungsmitglied des 2008 errichteten Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) der jüdischen Gemeinde zu Berlin. Gründungsmitglied und Vorstandsvor­sitzender des „Fördervereins Jüdischer Friedhof Berlin-Weißensee e.V. Tätig im inter­nationalen Fundraising, Mitwirkung an verschiedenen Ausstellungen und Projekten, z.B. an der Finanzierung zur Restaurierung von mehreren Grabfeldern des Jüdischen Fried­hofs Berlin-Weißensee in den 1990er Jahren.

 

Mamlock Foundation – von Generation zu Generation – L’Dor Vador
c/o GF Johanna Neumann
Solinger Straße 09.a
D-10555 Berlin
mm@mamlock-foundation.com

 

Thomas Metzger ist Professor für Geschichte und Co-Leiter der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Forschungs­schwer­punkte mit Bezug zum Projekt: Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte des Antisemitismus, schweizerische Flüchtlingsgeschichte 1933-1945, Geschichte des Faschismus.

Kontakt:
Pädagogische Hochschule St. Gallen
Notkerstrasse 27
9000 St. Gallen
thomas.metzger@phsg.ch